Forschung Konkrete Poesie

Das Geheimnis der Lausicker Schriften

Nach der Entdeckung der Lausicker  Schriften und ihrer Entschlüsselung legt ein Team von Literaturhistorikern und Studenten eine Arbeit vor, die beweist, dass lange vor der Erfindung des Films und der bewegten Konkreten Poesie ein  Mann namens August Engert eine einzigartige Form konzeptioneller Kunst  entwickelt hat, die ihresgleichen sucht. Eines der vielen Ergebnisse ist die folgende Animation.

 

Geschichte einer Entdeckung

Im Jahre 1970 erwarb Wilfried von  Manstein bei einer öffentlichen Versteigerung des Amtsgerichts Hamburg  einen dringend benötigten Fotokopierer - für fünfzig Deutsche Mark. Die  damaligen Maschinen waren groß und schwer und von Manstein musste seinen Freund Armin Degenhardt bitten, ihm beim Transport zu helfen. Als die Männer das Gerät gerade auf eine Sackkarre geladen hatten und den Versteigerungs-Saal zu verlassen im Begriff waren, wies ein Beamter des  Amtsgerichts sie darauf hin, dass eine riesige Kiste zu dem ersteigerten Los dazugehörte und dass sie diese gefälligst ebenfalls mitzunehmen hatten. Von Manstein lehnte dies ab, denn er hatte seiner Meinung nach lediglich den Fotokopierer und nichts weiter ersteigert. Der Beamte  bewies ihm aber anhand der auf Kopierer und Kiste aufgeklebten Nummern, dass beides zusammengehörte und dass es keinesfalls anginge, etwas davon einfach stehen zu lassen. "Der Saal muss in einer Stunde  vollständig geräumt sein, denn die nächste Versteigerung muss vorbereitet werden." Inzwischen hatte Degenhardt die Kiste und ihren Inhalt inspiziert und meinte: "Das kriegen wir schon hin! Notfalls schmeißen wir alles weg. Es sind alte Bücher und Papiere". Zähneknirschend und  mit großer Mühe packten die Freunde die ersteigerten Gegenstände in  ihren alten Renault.

Bevor sie losfuhren, schaute sich von Manstein eines der dicken Bücher an - es handelte sich offensichtlich um aufwendig gebundene Jahrgänge von juristischen Zeitschriften. Dazwischen eine vergammelte Mappe mit Papieren und hölzerne Teile.

Auf der Fahrt in die Hamburger Innenstadt meinte von Manstein: "Wir könnten ja bei einem Antiquariat vorbeifahren, vielleicht nehmen die das Zeug." Gesagt getan. Man hielt am Gänsemarkt und bat den Antiquar zum Auto. Der Mann wand sich und  meinte: "Das Zeug müssen Sie zu einem Flohmarkt bringen, das ist nicht viel wert. Höchstens für die Bücher kann ich Ihnen etwas geben. Aber  nicht viel." Von Manstein: "Egal. Hauptsache Sie nehmen die Sachen." Der Antiquar: "Das dürfte sich für Sie kaum lohnen. Die heutigen jungen  Anwälte stellen sich sowas nicht mehr hin, das tut mir leid, aber ...".  "Wieviel?" fragte von Manstein ungeduldig. "Na, mehr als fünfhundert Mark sind nicht drin." Die Freunde gickelten und meinten im Chor:  "Gemacht!" Das Geld wechselte seinen Besitzer und der Antiquar holte seine Helfer, um die zwanzig oder vierundzwanzig dicken Bände aus der  Kiste zu nehmen und in die Buchhandlung zu tragen. Von Manstein und Degenhardt teilten sich den unverhofften Gewinn und verjubelten ihn  sofort auf der Reeperbahn. Der Fotokopierer landete in von Mansteins Büro und die nunmehr halbleere Kiste auf Degenhardts Dachboden, denn  Degenhardt war ein Mensch, der nichts wegwerfen wollte oder konnte -  heute würde man ihn als "Messie" bezeichnen. Von Manstein hatte die dicke Mappe mit unleserlichen Papieren (alte deutsche Schrift) und wurmstichige hölzerne Teile mit unbestimmbarer Funktion nur flüchtig registriert und dann sofort vergessen.

Zwanzig Jahre später - die Freunde hatten in der Zwischenzeit nur selten Kontakt gehabt - erhielt von  Manstein einen Anruf vom Nachlassverwalter des inzwischen verstorbenen  Armin Degenhardt. Dieser wies darauf hin, dass ein Behälter mit einem  aufgeklebten Zettel "Eigentum Wilfried von Manstein" in Hamburg abzuholen sei. Von Manstein hatte die Kiste und ihre Geschichte längst vergessen; er bat eine Mitarbeiterin, die Gegenstände abzuholen und  lagerte sie mehr oder minder ungeprüft in seinem Keller in Wiesbaden  ein.

Wiederum fünfzehn Jahre später - anlässlich eines geplanten Umzuges - sichtete von Manstein zusammen mit  Studenten der Fachhochschule Wiesbaden die verstaubten Materialien. Hier nun kommt ein fast unglaublicher Zufall ins Spiel. Einer der Studenten entdeckte den Namen seines verstorbenen Großvaters Balthasar Otto (ein Schriftsteller und Historiker) auf einigen der Dokumente. Zwar stellte sich später heraus, dass es sich nur um eine möglicherweise zufällige Namensgleichheit handelte, aber zu diesem Zeitpunkt hatte der Student  Otto bereits herausgefunden, dass er einer Sensation auf der Spur war.  Lesen Sie seinen Bericht:

Eine geniale Erfindung: das Balthasarium

Am 12. Januar 1727 wurde Balthasar Otto in Crossen (Brandenburg) als Sohn des Tuchmachers Jeremias Otto geboren. Wegen seiner handwerklichen Begabung, er war Schuhmacher, engagierte ihn der Schauspieler und Theaterprinzipal Jean Balthasar Siegritz (in der Literatur wird sein Name auch mit Balthasar Siegerist angegeben) gelegentlich für Arbeiten am Bühnenbild oder in der Requisite seiner umherziehenden Theatertruppe.

Ein Mitglied des Ensembles, Lucius Phaist, war schwerhörig und konnte sich keinen Text merken, so dass ein Mitspieler als Souffleur agieren und gehörig zu schreien hatte.

Als die Truppe im Jahre 1764 überraschend zur Ostermesse ins gerade neu eröffnete  Comödienhaus auf der Rannischen Bastei zu Leipzig eingeladen werden  sollte, war klar, dass ein laut brüllender Souffleur in einem Theater  innerhalb der Leipziger Ringmauern ein Ding der Unmöglichkeit  darstellte, insbesondere, da Herzog Ernst Friedrich III. Carl von  Sachsen-Hildburghausen möglicherweise der Vorstellung beiwohnen würde.

Denn er kritzelte mit einem Bleistift in der Zeichnung herum und kombinierte den "Teleprompter" des Vorfahren mit dem Leierkasten und machte sich gleichzeitig Notizen darüber, wie er das "Balthasarium" - so nannte er das Gerät zu Ehren seines Erfinders Balthasar Otto - für seine Kinder zu verwenden gedachte.

Wenn Wilfried von Manstein nicht hundert Jahre später die Reste der Notizen und einige restaurierbare Papierrollen ersteigert hätte, wäre das "Balthasarium" allerdings mit Sicherheit in der bereits allzu lange dauernden Vergessenheit  verblieben.

Wenn man sich den "Leierkasten" auf  dem Bild genau anschaut, erkennt man die Buchstaben R e g. Da diese sich nach Glas' Plan auf einer beweglichen Papierrolle befinden würden, würde er sie mittels der Kurbel nach unten verschwinden lassen können.  (Hierzu bedurfte es allerdings einer besonderen Mechanik im Inneren des Gehäuses - doch darauf werden wir noch eingehen.)

Laut den Notizen von Carl August Engert machte dieser mit dem Mund ein Geräusch, wenn ein Buchstabe am unteren Rand des Balthasariums verschwand. Wilfried von Manstein hat zusammen mit einem Studenten der Fachhochschule für  Medien und Design jene erste Animation nachgebaut. Sie dürfte als Urform der bewegten konkreten Poesie gelten, wie sie anders erst mit Aufkommen der Cinematografie möglich gewesen wäre.

In dieser Notsituation entwickelte Balthasar Otto für seinen Chef eine Art "Teleprompter", der vereinfacht  gesagt aus zwei Nudelhölzern bestand, über die eine Schriftrolle  gewickelt und mittels einer Kurbel bewegt werden konnte.

Vielleicht auf diese Idee gebracht hatte ihn die jüdische Thora oder auch die zu jener Zeit beliebten mechanischen Musikinstrumente, die durch gelochte Papierbahnen gesteuert wurden. Mit Recht könnte Balthasar Otto als Erfinder des Teleprompters bezeichnet werden.

Es kam zwar nie zu der versprochenen Aufführung - Prinzipal Heinrich Gottfried Koch, der bei der Neuberin sein Handwerk gelernt und schon 1641 das kursächsische Privileg erhalten hatte, spielte statt  seiner und Theaterdirektor Balthasar Siegritz musste stattdessen in der Leipziger Vorstadt auftreten (vermutlich vor dem Grimmaischen Tore) - , aber das "Balthasarium", war erfunden. (Ob der Name sich von dem des  Prinzipals oder seinem Handwerker, oder nach beiden benannt wurde, ist unbekannt. Auch ob es später jemals von anderen Theatern verwendet wurde, muss ein Geheimnis bleiben. Denn verständlicherweise war niemand  daran interessiert, ein für einen Schauspieler existenzbedrohendes Handicap publik zu machen.)
 

Etwa im Jahre 1870 fand der bereits fünfzigjährige Carl August Engert aus Bad Lausigk (in der Nähe von Leipzig) auf dem Dachboden seines Ur-Ur-Großvaters Andreas Engert, (getauft am 3. März 1688 in Borna, ebenfalls Nähe Leipzig) und möglicherweise ein Verwandter, Freund oder Kollege des Lucius Phaist das hier abgebildete Gerät, ohne allerdings eine Ahnung zu haben, wozu es diente. Da es ihn irgendwie faszinierte, hob er es auf und verstaute es seinerseits an einem sicheren Platz. Einige Zeit später entdeckte er in der Zeitung eine Zeichnung von Theodor Hosemann, die im Jahre 1862 in einem Buch  "Aus dem Alphabet für Kinder" erschienen war und einen Leierkastenmann  darstellte, dem vier Kinder zuhören und -schauen. Über seinen  Leierkasten hat der Mann eine Art Plakat gehängt, auf dem die Buchstaben "E" und "e" in alter deutscher Schrift zu sehen sind. Dieses Bild muss Engert zu einer besonderen Idee angeregt haben.

 

Die Drehung um 90 Grad

Zu einem bestimmten Zeitpunkt muss August Engert auf die Idee gekommen sein, das Balthasarium um 90 Grad zu drehen, so dass sich die Buchstaben auf der Papierrolle von rechts nach links bewegten. Auch hier findet sich eine Notiz, die besagt, dass Engert mit dem Mund ein Geräusch machte, wenn er seinen Kindern die  Rolle vorführte.

 

Wir wissen nicht viel über Carl August Engert. Erhalten geblieben sind nur wenige persönliche Papiere und die mehr oder minder  kryptischen Konstruktionszeichnungen. Bei den Unterlagen befand sich  allerdings eine auf einen Karton aufgezogene Daguerrotypie, die vom  Fotografen retuschiert wurde und von der man vermutet, dass sie den Künstler darstellt. An dem Karton zeigen sich Spuren von Klebstreifen und Nägeln, mit denen er offensichtlich einmal in einem Bilderrahmen befestigt war. Die Rückseite wirkt, als sei sie von Generationen von Kindern bekritzelt worden. Das Bild wirkt coloriert, ist aber lediglich  altersgemäß vergilbt.

Wir zeigen einen Ausschnitt aus diesem alten Foto.

 

 

 

Konzeptionelle Poesie

Irgendwann hat August Engert begonnen, sich Ideen zu notieren, was man noch alles machen könnte, wenn die technischen Möglichkeiten des Balthasariums dies erlauben würden.Das Team um Wilfried von Manstein hat versucht, die teilweise sehr kryptischen Notizen zu Animationen zu verdichten.

Hier ein Beispiel:

 

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